Christin Melcher

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Wer wir sein könnten

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Vom Opfer zum Bürger: 29 Jahre nach dem Mauerfall sollten wir Ostdeutsche mit der Selbstverständigung darüber beginnen, woher wir kommen – und wohin wir wollen.

Debattenbeitrag erschien am 06.01.2019 im Tagesspiegel

Ich bin 1983 in Ost-Vorpommern geboren. Vielleicht ist Ostdeutschland nirgendwo ostdeutscher als hier – nicht nur geografisch, sondern auch mental. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gibt es die niedrigsten Einkommen und die höchsten AfD-Ergebnisse, zu viele Männer, zu wenige Frauen, schöne, aber sich stetig leerende Landschaft. Es ist sozusagen der absolute Gegenpol zum boomenden, politisch so grünen Südwesten der Republik. 

Mittlerweile 29 Jahre nach dem Mauerfall erscheint Ostdeutschland mehr denn je als Problemfall – eine Einschätzung die, wenn auch auf unterschiedliche Weise, in Ost und West geteilt wird. Beiderseits dominieren holzschnittartige Beschreibungen der Ostdeutschen, mit denen ich ebenso wie andere meiner Generation konfrontiert werden. „Integriert doch erst mal uns!“ lautet eine Forderung, mit der das Ostdeutschsein neuerdings erklärt wird – und mit der ich wie viele andere so gar nichts anfangen kann. Identitätspolitiken wie diese drehen immer wieder nur im Kreis, weil dieses „uns“, also das ostdeutsche Wir nicht differenziert, sondern pauschalisiert wird. Es wird Zeit für eine innerdeutsche und eine innerostdeutsche Debatte, die weder verklärt noch dämonisiert, die alle Enttäuschungen und Hoffnungen, vor allem aber auch die unausgesprochenen Widersprüche und Risse der ostdeutschen Gesellschaft vor und nach 1989 ausspricht.

Wer Ostdeutschland 2018 verstehen will, muss zurückgehen in das Jahr 1990. Es gibt dieses Bild, in der die Wahlkämpferin Angela Merkel 1990 in einer Fischerhütte auf Rügen sitzt. Während diese Aufnahme oft als Illustration für den Anfang des raschen Aufstiegs der heutigen Kanzlerin steht, erzählen die Fischer und ihre Hütte hingegen vom Ende eines langen Abstiegs. Die meisten von ihnen wurden, wie so viele andere, arbeitslos und fanden allzu oft keine Beschäftigung mehr. Ihre Fischerhütten wurden meist abgerissen, statt dass man sie behutsam für andere Zwecke restauriert hätte. 

Entwertung und Geringschätzung – beides sind prägende Erfahrungen, mit denen ich in meinem Heimatdorf zwischen Achterwasser und Ostsee aufwuchs. Der Osten war, wohl mehr als weite Teile Westdeutschlands, ein Labor neoliberalen Gesellschaftsumbaus, der mit einer beispiellosen Deindustrialisierung und Umverteilung von unten nach oben einherging. Der übergroße Teil des Landes und der Städte gehört nicht denjenigen, die hier leben; und wer hier geboren wurde, hat geringere Chancen auf Spitzenpositionen in diesem Land. Das sind bittere Wahrheiten, die kaum ausgesprochen werden. Einige sind gekommen nach 1990, haben die Städte aufgekauft, die Posten an Hochschulen und Verwaltung besetzt und stehen bis heute bei der Debatte zwischen den Stühlen. Der Start in die Demokratie war, anders als in der Bundesrepublik, eben nicht mit Prosperität und individuellem Aufstieg, sondern allenfalls mit prekärem Wohlstand verbunden. Und der war permanent bedroht von dem immer länger werdenden Schatten, den die Arbeits- und Beschäftigungslosigkeit über ganze Landstriche warfen. 

Dieses Grundgefühl prägt mehrere Generationen der Ostdeutschen bis heute. Die Gleichzeitigkeit von Aufbruch und Abbruch machte viele misstrauisch gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen. Sie hat dazu geführt, dass sie Politik vielfach als Dienstleistung betrachten und politisches Engagement kritisch beäugen.

Zweifellos hatten die ökonomischen Umbrüche und biographischen Brüche der 1990er Jahre zum Teil verheerende Auswirkungen. In der Diskussion darüber wird jedoch ein problematisches Moment sichtbar: Die Ostdeutschen erscheinen lediglich als Opfer dieser Entwicklung. Dabei hat die große Mehrheit von ihnen die grundlegenden politischen und ökonomischen Weichenstellungen von der Währungsunion bis zur Treuhand mitgetragen und durch Wahlen legitimiert. 

Es ist kein Zufall, dass Pegida & Co. auf einem Opfernarrativ aufbauen, das sich problemlos aus der Vergangenheit herleiten und auf die Gegenwart projizieren lässt: der Ostdeutsche als Opfer der SED, der Treuhand, der westdeutschen Eliten, der Lügenpresse, der Islamisierung usw.. In der wahllosen Vermischung tatsächlicher und vermeintlicher Unterdrückung erscheint der Ostdeutsche immer wieder als eine ohnmächtige Figur, die fortgesetzt und schutzlos widrigen Umständen ausgeliefert ist. In dieser Rolle verbleiben schließlich nur wenige Handlungsoptionen: verschämte Hinnahme, laute Anklage oder Umkehrung der Rollen, was heißt, das Opfer schlägt zurück und wird zum Täter. Die Gewalt, die sich in Freital, Heidenau, Chemnitz und anderswo Bahn brach, ist nur das Ergebnis empfundener Ohnmacht. Eben deshalb ist es falsch, zur Erklärung von Hass und Hetze bei den biographischen und gesellschaftlichen Verwerfungen, bei einer neuerlichen Opfererzählung unzureichend integrierter Ostdeutscher stehen zu bleiben. Denn in der beständigen Stilisierung als Opfer erscheint der Ostdeutsche als eines gerade nicht: als Bürger, der Verantwortung für sein Handeln übernimmt, der den Gang der Dinge beeinflusst. Eine innerostdeutsche Verständigung muss genau hier ansetzen, an der eigenen, unabweisbaren Verantwortung für die eigene Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

Dass Verantwortung nicht mit Schuld gleichzusetzen ist, zeigt der Blick auf alltägliche, vielfach positive Erinnerungen. Wer die DDR auf ihre Diktaturerfahrung verkürzt, verstellt den Blick auf die Momente der Modernität, Egalität und Kreativität, an denen sich eine positive ostdeutsche Identität entzünden kann. Die Erinnerungen der eigenen Selbstwirksamkeit auch unter Bedingungen der Diktatur verdienen ebenso Achtung wie scheinbar banale, doch prägende Kindheitserinnerungen. Auch ich erinnere mich an meine Mutter vor der Nähmaschine nach einem langen Arbeitstag. Ich erinnere mich an den Jungen meiner Klasse, der erzählte, seine Mutter sei Hausfrau, und wir dachten alle, sie baut Häuser. Ich erinnere mich an die Bucheckern, die wir im Wald sammelten, um sie beim Förster abzugeben, an das Altpapier, das ich gesammelt habe. Ich erinnere mich an die Grillfeste mit Thüringer Bratwürsten und die Familienfeste im Garten des Plattenbaus. Ich erinnere mich an Nachbarschaftshilfen und Unterstützung beim Bau der Gartenlaube. Die Erfahrungen, konkreter Solidarität, eines einfachen und unverstellten Umgangs miteinander, einer alltäglichen Egalität und des selbst Anpackens mögen vielfach Klischee sein, aber verkörpern Werte, an die wir anknüpfen können. Ich erinnere mich aber auch an den unangekündigten Besuch vom Nachbarn, am Wahltag und den Streit meiner Eltern darüber. Ich erinnere mich an das Klingeln am 1. Mai um Punkt neun Uhr, weil die Fahne nicht hing. Ich erinnere mich an die Blicke der Nachbarn, beim Betrachten meiner Jeans aus dem Intershop. 

Die alltägliche Erfahrung der Diktatur, das Misstrauen und die Zersetzung sozialer Beziehungen prägen ostdeutsche Identitäten ebenso wie das nagende Gefühl materieller Zurücksetzung. Postkontrollen, Hausbesuche, Abhören von Privatem waren für viele allgegenwärtig. Abwicklung, Stasi-Akten, die bis heute wie eine Splitterbombe ins Private, ins Berufliche ins Intimste reichen. Wie viele haben bis heute ihre Akten nicht gelesen. Es gibt Sagbares, und es gibt Sachen, die besser verschwiegen werden sollen. 29 Jahre nach dem Mauerfall gibt es ein schreiendes Schweigen unserer Elterngeneration aus Angst vor erneuten Rissen in Familien, Freundschaften, dem engsten Umfeld und vielleicht auch uns Kindern gegenüber. Es ist ein Schweigen über die eigene Verantwortung nicht nur in den politischen Systemen nach und vor 1989, sondern auch über die eigene gesellschaftliche Verantwortung. Millionen Ostdeutsche sind gegangen vor dem Mauerfall. Sie sind geflohen vor Schikane und dem Denunzieren im Privaten, Beruflichen und Politischen. Sie sind aber auch geflohen vor der Engstirnigkeit, vor dem Staub in den Amtsstuben, vor Muff und Provinzialität, vor einer offenen Ablehnung des Andersseins, das bis heute leider in weiten Teilen Ostdeutschlands spürbar ist. Bis heute fehlt eine innerostdeutsche Auseinandersetzung über ein gesellschaftliches Klima, das vor und nach dem Mauerfall Hunderttausende Ostdeutsche veranlasste zu gehen – und andere davon abhält zu kommen.

Diese gesellschaftliche Auseinandersetzung können wir nur führen, wenn wir unsere Perspektive ändern. Wer uns Ostdeutsche in der öffentlichen Debatte nur als Opfer der Umstände sieht, entlässt uns nicht nur aus unserer Verantwortung, sondern entmündigt uns auch. Wir haben unsere Geschichte aber selbst geschrieben, die Geschichte von Leipzig 1989 ebenso wie die von Chemnitz 2018. Zu wenig gerät in den Blick, auf welche unterschiedliche Weise die Ostdeutschen an ihren Geschicken mitwirken. Zu wenig werden vor allem die Unzähligen in den Blick genommen, die sich hier aktiv einmischen, die hier wirken und die hier vor und nach 1989 gegen die Mutlosigkeit, die Enge im Denken und Fühlen gestritten haben. „Für ein offenes Land mit freien Menschen“ –- nichts könnte in stärkerem Kontrast zu den Umtrieben von AfD und Pegida stehen, als der Geist dieser Losung von 1989, die heute aktueller denn je ist. Die Friedliche Revolution von 1989 richtete sich eben nicht nur gegen einen Unterdrückungsapparat, sondern war ebenso eine Revolte gegen den allgegenwärtigen gesellschaftlichen Muff und für eine aktive Veränderung der Verhältnisse. Ihr gingen unzählige kleine, alltägliche Akte des Widerstreits und der Eroberung von Handlungsspielräumen voraus, deren Geist uns bis heute prägt.

In dieser selbsteroberten Freiheit ist eine neue ostdeutsche Generation herangewachsen: ich konnte studieren, was meine Eltern nicht konnten. Ich kann in ganz Europa reisen, was meine Eltern nicht konnten. Ich kann meine politische Meinung äußern, was meine Eltern nicht konnten. Ich kann lesen, hören und sehen, was ich will, was meine Eltern nicht konnten. So unterschiedlich unsere Erfahrungen sein mögen, in den vergangenen 30 Jahren hat sich die Gesellschaft zwischen Harz und Oder vermutlich stärker gewandelt als in den 30 Jahren davor. Sie ist vielfältiger und einfältiger, weltoffener und provinzieller, moderner und rückständiger – in jedem Fall zu widersprüchlich geworden, um sie auf einen Nenner zu bringen. Diese Vielfalt ostdeutscher Erfahrungen und Identitäten sollten wir nicht als Schwäche sehen, sondern zu einer Stärke machen. Lasst uns eine ostdeutsche Selbstverständigung darüber wagen, woher wir kommen, und wohin wir wollen. Anstatt dabei zu verharren, wer wir nicht sein wollen, lasst uns darüber streiten, wer wir sein könnten, und wie wir dahin kommen.

Die Zukunft des Ostens liegt sicher nicht im Ausschluss anderer, sondern in der Einladung, dieses Land gemeinsam zu verbessern. Es ist Zeit, dass sich die Weltoffenen und Neugierigen, diejenigen, die auf Besseres hoffen, zusammentun. Gründe, sich einzumischen gibt es genug: längeres gemeinsames Lernen, einen gerechten Anteil an Einkommen und Vermögen, eine gute Lebensqualität in Stadt und Land und vieles mehr. Ostdeutschland steht 29 Jahre nach der Friedlichen Revolution und im Jahr richtungsweisender Landtagswahlen, in Sachsen, Thüringen und Brandenburg vor der Entscheidung: Muff der Vergangenheit oder Mut zur Zukunft. Für Zukunftsmut ist es wichtig, aus der Trägheit herauszukommen und den republikanischen Gedanken mit Gestaltungswillen zu füllen. Dafür braucht es aber auch die ökonomischen und rechtlichen Voraussetzungen, damit sich Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung entfalten können. Einmischen muss sich lohnen. Lasst uns die res publica, die öffentliche Sache zur eigenen zu machen. Im 30. Jahr der Friedlichen Revolution geht es darum, wohin der Osten geht: Abwehr von Veränderung, eingefahrene Muster und Politik als Dienstleistung oder Offenheit für Neues, ein radikaler Realismus, grundlegende soziale Verbesserungen und eine neue politische Kultur, in der sich Einmischen lohnt.

 

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