Nachdem Ende 2019 über 50.000 Unterschriften für den Volksantrag „Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen“ gesammelt waren, wurde 2020 die Gemeinschaftsschule (und Oberschule+) als neue Schulart im Sächsischen Schulgesetz verankert. Mit Beginn des aktuellen Schuljahres 2021/22 lag die entsprechende Schulordnung vor, die erste Gemeinschaftsschule – die Leipziger Modellschule (LEMO) – und die erste Oberschule+ – die Freie Keulenbergschule in Großnaundorf im Landkreis Bautzen – gingen an den Start. Noch immer gibt es viele offene Fragen: Eine Schule für alle, (wie) geht das? Wo in Sachsen ergibt die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule oder Oberschule+ Sinn, wie ist die Ausgangslage in Stadt und Land? Und welche Veränderungen braucht es hinsichtlich des Lehramtsstudiums, der Lehrer*innen-Rolle, des Unterrichts, des Bildes vom Kind?
Am 31. März 2022 lud die bildungspolitische Sprecherin der BÜNDNISGRÜNEN Landtagsfraktion, Christin Melcher, zur Podiumsdebatte „Gemeinschaftsschulen für alle!“ ins Steinhaus Bautzen ein. Auch ein Livestream auf dem YouTube-Kanal der BÜNDNISGRÜNEN Fraktion wurde angeboten.
Als Referent*innen konnten wir begrüßen: den Bürgermeister der Gemeinde Göda, Gerald Meyer, die Vorsitzende des Kreisschülerrates Görlitz, Johanna Hallfahrt, den Vorsitzenden des Vereins „Gemeinsam länger lernen in Sachsen e.V., Florian Berndt, sowie Tom Vetter, Lehrer an einer Oberschule im Landkreis Bautzen. Christin Melcher führte als Moderatorin durch den Abend.
„Nichts desto trotz ist es ein Anfang.“ (Florian Berndt)
Zunächst blickten die Referent*innen zurück und diskutierten die Frage, inwieweit die Verankerung des längeren gemeinsamen Lernens im Schulgesetz als Erfolg gewertet werden könne. Florian Berndt räumte ein, dass er anfangs entrüstet gewesen sei über die Ablehnung des Volksantrags, sich dann aber über den Kompromiss gefreut habe. Eine zentrale Hürde sei die geforderte Zügigkeit von Gemeinschaftsschulen und Oberschulen+. Gerald Meyer berichtete aus seiner Gemeinde Göda, die seit 2006 keine Oberschule mehr hat, im Zuge des Grundschulneubaus aber erwägt, wieder Oberschulstandort zu werden. Die Oberschule+ sei hier eine gute Option, „damit die Schülerinnen und Schüler vor Ort bleiben können“. Vor Ort gab es wenig Gegenstimmen gegen das Konzept des längeren gemeinsamen Lernens. Finanziell sei die Gemeinde jedoch nicht in der Lage, ein solches Vorhaben alleine zu stemmen, man sei auf die Unterstützung des Landkreises angewiesen. Unter den Schüler*innen, so meinte Johanna Hallfahrt, gäbe es wenig Wissen über die neue Schulart. Die mediale Debatte würde die
Klassenzimmer kaum erreichen, obwohl etwa die frühe Trennung der Kinder nach Klasse 4 ein großes Thema sei. Auch bei späteren Wechseln, z.B. von der Oberschule ans Gymnasium, gäbe es mitunter Probleme, insbesondere, wenn an der Oberschule keine 2. Fremdsprache belegt wurde. Auch Tom Vetter bestätigte, dass von der medialen Debatte wenig vor Ort angekommen sei. An seiner Schule sei die Umwandlung in eine Oberschule+ bisher keine Option, auch wenn das Interesse an Schulentwicklung und neuen Wegen im Kollegium groß sei. Er gab zu bedenken, dass die Gemeinschaftsschule in der Zeit der Corona-Pandemie gestartet sei und thematisch nicht zuletzt dadurch überlagert wurde.
„Die Umsetzung hängt vom Spirit der Schule ab. Freie Schulen sind da mitunter mutiger.“ (Tom Vetter)
Welche Rolle die Trägerschaft einer Schule für die Einrichtung oder Umwandlung zur Gemeinschaftsschule bzw. Oberschule+ spielt, war im Folgenden Gegenstand der Diskussion. Tom Vetter gab zu bedenken, dass es Zeit bräuchte, ehe alle Beteiligten das Anliegen mittragen, Schulen in freier Trägerschaft gingen hier oftmals voran. Gerald Meyer machte klar, dass das Anliegen, in Göda eine Oberschule+ einzurichten, an den Schülerzahlprognosen des Landkreises scheitere; der Bedarf für einen neuen Standort sei momentan nicht darstellbar. Auch die offene Finanzierung spiele eine große Rolle. Von Seiten der Wirtschaft, etwa der Handwerkskammer, gebe es viel Unterstützung, auch aus Teilen des Landkreises und der Kultusverwaltung. Florian Berndt stellte anschließend dar, welche Rolle der Verein künftig spielen wolle: Man wolle weiter für die Gemeinschaftsschule bzw. Oberschule+ werben und in enger Abstimmung mit dem Kultusministerium Schulen beraten, die sich auf den Weg machen wollen.
„Es muss wichtig sein, was die Schülerinnen und Schüler wollen. Eine Zustimmung [zum Konzept] ist wahrscheinlich. Ich wüsste nicht, warum nicht.“ (Johanna Hallfahrt)
Mit Blick auf die schulische Praxis hob Johanna Hallfahrt hervor, dass das längere gemeinsame Lernen es eher ermögliche, auf die Stärken und Schwächen der Schüler*innen einzugehen, sie individuell zu fördern und als Klasse und Schule inklusiver zu werden. Auch sei es der Sozialkompetenz zuträglich, wenn Kinder nicht nach Leistung getrennt würden, was auch die gegenseitige Wertschätzung erhöhe. Tom Vetter bestätigte, dass die Schule per se eine Selektionsfunktion hätte. Längeres gemeinsames Lernen könne die Durchlässigkeit verbessern und helfen, Schüler*innen besser mitzunehmen. Er gab zu bedenken, dass Schulen dabei auch räumlich anders gedacht werden müssten. Zur Frage, ob das Lehramtsstudium in seiner derzeitigen Form geeignet ist, angehende Lehrkräfte auf die Arbeit an einer Gemeinschaftsschule oder Oberschule+ vorzubereiten, gab es unterschiedliche Ansichten. Tom Vetter bilanzierte, dass das Studium gut und fortschrittlich gewesen sei („In der Ausbildung lernt man das schon“), mitunter aber hänge die Schulpraxis hinterher. Er verwies auf offene Fragen bei der konkreten Umsetzung des längeren gemeinsamen Lernens. Florian Berndt hielt das Studium grundsätzlich für geeignet, sah aber Nachbesserungsbedarf, insbesondere zu Themen wie kooperatives Lernen oder Binnendifferenzierung („Luft nach oben ist auf jeden Fall“). Er formulierte die Überwindung des gegliederten Schulsystems als langfristiges Ziel, die Gemeinschaftsschule könne hierbei ein Weg sein. Johanna Hallfahrt monierte, dass individuelle Förderung und fächerübergreifender Unterricht bisher kaum umgesetzt werden, oft gäbe es Frontalunterricht und gleiche Aufgaben für alle zur gleichen Zeit. Gerald Meyer stellte fest, dass auch das Bildungsniveau insgesamt ein Problem sei. In Unternehmen und im Handwerk sei man auf gute Auszubildende angewiesen. Hier könne die Oberschule+ eine Option sein.
„Der Anfang ist immer schwer – wer soll denn Erfahrungen haben?“ (Gerald Meyer)
In der Abschlussrunde äußerten die Referent*innen ihre Wünsche, um Gemeinschaftsschulen und Oberschulen+ in Sachsen zu etablieren. Tom Vetter warb dafür, die Diskussion in die Lehrerzimmer zu holen, „damit es als Option gesehen wird“. Dafür brauche es Zeit und Geduld, aber auch einen festen Willen und Hartnäckigkeit. Gerald Meyer wünschte sich außerdem eine Förderung von baulichen Maßnahmen, die mit der Einrichtung oder Umwandlung einer Gemeinschaftsschule bzw. Oberschule+ einhergingen. Johanna Hallfahrt forderte für die Schülervertretungen eine „größere Bühne, wo wir uns dafür aussprechen können“, und „mehr Willen, uns zuzuhören“. Florian Berndt äußerte abschließend die Wünsche, als Verein noch aktiver zu werden, und langfristig das Schulgesetz und die Schulordnungen im Sinne des längeren gemeinsamen Lernens weiter zu verbessern.
Im Anschluss an die Veranstaltung kamen Gäste und Referent*innen ungezwungen ins Gespräch, um Fragen und Gedanken zu vertiefen oder Kontakte auszutauschen.
Die komplette Veranstaltung finden Sie auf dem YouTube Kanal der BÜNDNISGRÜNEN Fraktion.